Beute-Knappheit wirkt sich auf Katzen so aus, dass der Anteil produktiver Weibchen vermindert, das Alter ihrer ersten Fortpflanzung verzögert, die Größe des Wurfes reduziert, die Sterberate von Nachwuchs und erwachsenen Tieren erhöht, deren Reviere ausgedehnt, ihre Aktivität intensiviert und die Anzahl von durchziehenden und sich verteilenden Individuen erhöht werden Stressfaktoren, die ihre Vitalität beeinträchtigen. Beute-Reichtum hingegen ist der Schlüsselfaktor, der die Struktur von Revieren der Weibchen bestimmt, während für die Reviere der Männchen das Vorhandensein von Weibchen am wichtigsten ist. Somit bestimmt das Beute-Angebot die Reviergröße von Katzen. Reviergröße ist wiederum auch ein wichtiger Faktor, denn die solitäre Lebensweise und die gemeinhin exklusiven Reviere von gleichgeschlechtlichen Individuen bringen die meisten Katzen-Populationen dazu, große Flächen von guten Habitaten über einen gewissen Grenzbereich hinaus zu besetzen, um ihre Vitalität zu erhalten. Zum Beispiel benötigen Leoparden-Populationen einen minimalen Schwellenwert von 412 km2 um lebensfähig zu bleiben. Deshalb ist es in kleinen und dicht bevölkerten Ländern auch bei gebietsweise hohen Beute-Dichten schwierig, lebensfähige Leoparden-Populationen zu erhalten.
Es kommt nun darauf an vorauszusagen, wieviele Individuen von P. pardus in einem gegebenen Gebiet, das mit ausreichend Beute ausgestattet ist, überleben können. Dazu muss man die vorausgesagten Schätzungen mit der tatsächlichen Anzahl im Freiland vergleichen. Wenn die vorausgesagte Tragfähigkeit das tatsächliche Aufkommen erheblich überschreitet, dann könnten andere Faktoren als die Verfügbarkeit von Beute eine Schlüsselrolle in der Bestimmung von Katzen-Dichten sein, zum Beispiel durch Mortalität oder Habitat-Verlust - Faktoren, die vom Menschen verursacht sind. Jedoch werden Katzen auf Beute-Verknappung wahrscheinlich empfindlicher reagieren als auf die direkten Folgen menschlicher Nähe, weil sie in der Lage sind, bei günstigen Naturschutz- und Management-Strategien ziemlich hohen menschlichen Dichten zu widerstehen. Interspezifische Konkurrenz ist eine andere mögliche Ursache von geringen Beutegreifer-Dichten, aber die Verfügbarkeit von Beute wird wiederum als ein vorrangig bestimmender Faktor angesehen.
Beute-Knappheit könnte einer der wahrscheinlichsten Gründe für die Seltenheit von Leoparden in Armenien sein. Um diese Hypothese zu prüfen, erscheint es sinnvoll die Biomasse der Schlüssel-Beutearten festzustellen, die Leoparden-Dichte anhand des Verhältnisses von Leoparden-Dichte zu Beute-Biomasse vorauszusagen und die vorausgesagte und tatsächliche Leoparden-Dichte zu vergleichen.
Ziel der vorliegenden Studie war es, die vorausgesagte und tatsächliche Dichte sowie das Aufkommen gefährdeter Leoparden im Nuvadi-Gebiet, einem Leoparden-Naturschutz-Gebiet höchster Stufe im Süden Armeniens, zu vergleichen. Wir erreichten das durch: (1) Schätzen von Dichte, Aufkommen und Biomasse der Schlüssel-Beutearten Bezoarziege, Wildschwein und Rothirsch anhand direkter Beobachtungen, Modellieren von Anwesenheit-Abwesenheit und mithilfe von Bilderfassungen; und durch (2) Voraussagen von Aufkommen und Dichte von Leoparden anhand der gesamten Beute-Biomasse und Vergleich mit tatsächlicher Dichte/Aufkommen, die mittels Fotofallen und durch Spurensuche erzielt worden sind.
Felduntersuchungen wurden von Mai 2006 bis März 2007 in einem 25 km2 großen Bereich im Norden des Dorfes Nuvadi auf dem Meghri Kamm im äußersten Süden Armeniens durchgeführt. Dieses Gebiet, das sich von 39° 01' N bis 38° 56' N und von 46° 24' O bis 46° 28' O erstreckt, ist der wildeste Teil des gesamten 296.9 km2 großen Nuvadi-Gebietes, das als Leoparden-Naturschutzgebiet höchster Stufe ausgewiesen wurde, wo alle von Wildtieren benutzte Fährten sich kreuzen. Das Gelände ist sehr rau, felsig und gebirgig und größtenteils mit trockenheitsliebendem spärlichen Wacholderwald und in den tiefen Felsschluchten mit dichtem Gebüsch und Inseln von wärmeliebendem breitblättrigem Wald bedeckt. Im Süden geht der spärliche Wald in arides Weideland über. Die Grenze des Studiengebietes wurde durch Linien definiert, die die äußersten Punkte der Untersuchung und die Aufstellungsorte der Fotofallen miteinander verbinden.
Mehrfache Anwesenheit-Abwesenheit-Erhebungen bestanden aus 30 täglichen Strecken (2-15 pro Areal) entlang der Wildfährten auf Bergrücken und in Schluchten über neun Erhebungszeiträume hinweg. Da die Erhebungen unabhängig waren, haben Erhebungen, während derer wir Tiere erfasst haben, nicht die Richtung von nachfolgenden Erhebungen beeinflusst. Direkte Erfassungen, das heißt Beobachtungen und Lautgebungen der Beutetiere von Leoparden (Bezoarziege, Wildschwein und Rothirsch), die Größe der Ansammlung, Zusammensetzung von Geschlecht/Alter wurden dokumentiert, Zeit und Position wurde durch GPS Magellan 310 festgehalten. Alle Fälle von möglichen doppelten Zählungen von Individuen wurden notiert. Eine Ansammlung wurde als eine Gruppe von Individuen einer Art betrachtet, die zusammen beobachtet wurden. Das Studiengebiet bestand aus vier Arealen, jedes davon mit zwei bis fünf Standorten. Die Areale waren groß genug um Populationsschließung vorauszusetzen. Wir haben die Areale nach ihren topographischen Unterschieden ausgewählt, dabei Unabhängigkeit für die studierte Art angenommen, und dass Arten, die a priori als häufig vorkommend bekannt sind, intensiver über weniger Areale untersucht werden sollten als umgekehrt.
Fotofallen waren im Studiengebiet von August 2006 bis April 2007 über acht Probenahme-Phasen hinweg in Betrieb.
Die Fotofallen waren nicht ortsfest aufgestellt, sondern wurden von der Höhenlage 1964.6 ± 120.8 m während der ersten Phase von Probenahmen (AugustOktober 2006) nach der Höhenlage 1169.3 ± 66.7 m (sechste bis achte Phase von Probenahmen, JanuarApril 2007) verbracht; damit folgten wir den Wanderungen der Tiere abwärts zu den Vorbergen infolge tiefen Schnees in den höheren Lagen.
Insgesamt waren die Fotofallen 4188 Nächte lang in Betrieb.
Wir erhielten 416 unabhängige Aufnahmen (76.6% von allen Aufnahmen) der folgenden Säugetiere: Wildschwein (96 Aufnahmen, 23.1%), Bezoarziege (76, 18.3%), Rotfuchs (72, 17.3%), europäischer Hase (48, 11.5%), Grauwolf (39, 9.4%), indisches Stachelschwein (35, 8.5%), Braunbär (25, 6.0%), Rohrkatze (8, 1.9%), Steinmarder (6, 1.4%), Rothirsch (5, 1.2%), eurasischer Luchs (3, 0.7%), Wildkatze (2, 0.5%) und Leopard (1, 0.2%). Bezoarziege und Wildschwein wurden von den Fotofallen am häufigsten aufgenommen, sowohl in räumlicher als auch zeitlicher Hinsicht, und wurden in allen Phasen der Probenahmen erfasst.
Wir haben die gesamte Beute-Biomasse von Leoparden als die Summe der Biomassen von Bezoarziege, Wildschwein und Rothirsch geschätzt und erhielten den Wert 720.37 ± 142.72 kg/km2.
Die Leoparden-Dichte, die in unserem Studiengebiet anhand der gesamten Beute-Biomasse vorausgesagt werden kann, beträgt 7.18 ± 3.06 (von 4.12 bis 10.23) Individuen pro 100 km2.Die Aufnahmen der Fotofallen belegten die Anwesenheit eines Leoparden in 25 km2 im Zeitraum von 2006-2007, als gleichzeitig Beute-Erhebungen durchgeführt wurden. Dieser Wert kann als vier Leoparden pro 100 km2 übersetzt werden, was in Anbetracht des vorhandenen Beute-Angebots am unteren Ende der vorhergesagten Leoparden-Dichte ist.
Zwischenzeitlich sind im gesamten 296.9 km2 großen Nuvadi- Gebiet intensive Fährten-Erhebungen durchgeführt worden, die gezeigt haben, dass dies eindeutig eine zu hohe Schätzung ist, da es keinerlei Anzeichen von anderen Leoparden im Gebiet gab. Demnach sind erwachsene Leoparden, von denen bekannt ist, dass sie hier in vergangenen Jahren gelebt haben, verschwunden.
Die tatsächliche Leoparden-Dichte im Nuvadi-Gebiet beträgt 1 Individuum in 296.9 km2 oder 0.34 Leoparden pro 100 km2.
Warum ist sie so niedrig? Sicher ist Beute-Knappheit kein Faktor von Bedeutung, weil unsere Vorhersage zeigt, dass die vorhandene Beute-Biomasse für das Überleben von 4-10 Leoparden pro 100 km2 ausreicht. Da das Vorhandensein von Beute äußerst wichtig für weibliche Leoparden ist, die wiederum den Status der männlichen bestimmen, begünstigt das lokal vorhandene Beute-Angebot die Bildung einer Kernpopulation, die aus ortsansässigen weiblichen und männlichen Tieren besteht. Die plausibelste Erklärung für die missliche Lage der Population ist, dass Wilderei und Störungen, die durch Viehzucht, Sammeln von essbaren Pflanzen und Pilzen, Abholzung und von Menschen angefachte Brände verursacht werden, so hoch sind, dass sie die Toleranzgrenzen von Leoparden überschreiten.